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Ich dachte, ich würde sterben, bevor ich mich zum 1. Mal verliebte

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Die Frauen in meiner Familie kennen sich mit Schmerzen aus. Sie wissen, was es heißt, in Harmonie mit der Art von Schmerz zu leben, die einem verräterischen Körper entspringt. Die Mutter meiner Mutter litt unter einem schwangerschaftsbedingten Glaukom (Grüner Star) und einem Herzen, das immer schwächer wurde, je älter sie war. Sie erlebte nicht mal ihren 75. Geburtstag. Meine Mutter entwickelte Arthritis, als sie mit mir schwanger war. Die ging nie wieder weg, und als ich alt genug war, um die Jahreszeiten zu verstehen, lernte ich, die Regenzeit mit dem Schlurfen der Füße meiner Mutter zu verbinden – und mit ihrem schmerzerfüllten Zucken, wenn sie humpelte. In der trockenen Jahreszeit gab es kein Schlurfen, kein Humpeln.

Mein Körper und ich sind uns nie einig gewesen. Ich war das zu kleine, zu gebrechliche Baby, das sich weigerte, von der Brust seiner Mutter zu trinken. Ein paar Wochen vor meinem ersten Geburtstag bekam ich eine Lungenentzündung diagnostiziert und wurde den Rest meiner Kindheit von meiner Mutter hektisch in Pullover gewickelt, sobald es anfing zu regnen. Ich habe nie im Regen gespielt – habe nie meine Arme ausgebreitet und mich von der kalten Brise mal nach links, mal nach rechts wehen lassen. Meine Mutter versuchte mit aller Gewalt, mir die Krankheit vom Hals zu halten. Sie hatte leider keinen Erfolg.

Ich habe meine Lungenentzündung nie so richtig überwunden. 22 Jahre später musste ich während des Bewerbungsprozesses für das Jurastudium ein paar medizinische Tests über mich ergehen lassen, zu denen eine Röntgenaufnahme der Brust gehörte. Und als ich meine Brust an das Röntgengerät drückte, erkannte die Röntgentechnikerin anhand meiner Lunge sofort meine medizinische Geschichte. „Ich sehe etwas in Ihrer Brustgegend“, bestätigte mir auch der Arzt, dem ich danach gegenüber saß.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hatte als Kind eine Lungenentzündung“, sagte ich.

„Sind Sie krank?“, fragte er zurück.

„Mir geht es jetzt gut“, erwiderte ich sofort. Was ich aber eigentlich hatte sagen wollen, war: Ich bin andauernd krank.

„Das Jurastudium ist nichts für schwache Nerven“, erinnerten mich auch die Student:innen im Jahrgang über mir. Aber meine Nerven waren schwach – genau genommen: mein Herz. Ein paar Wochen nach meinem 16. Geburtstag war mir eine hypertensive Herzerkrankung diagnostiziert worden. Einen Monat darauf erkrankte ich an einer besonders aggressiven Form von Malaria, die mir die Kontrolle über meine Extremitäten hatte nehmen wollen – und mein Leben gleich mit.

Als mich meine Mutter in dieser Nacht in meinem Krankenhausbett in den Armen hielt, während ich vor Schmerzen zitterte, erzählte sie mir eine Geschichte. „Ihr Name war Jene“, sagte sie, während der Alltag im Krankenhaus und der Welt da draußen ruhig weiterging. Jene war das hübscheste Mädchen in ihrem Dorf, in einem mystischen Land, in dem Schmerzen einfach an andere weitergereicht werden konnten. Der König hatte seine Absicht zur Heirat kundgetan, und interessierte junge Frauen sollten sich vor ihm in einer Parade präsentieren, sodass er eine von ihnen auserwählen konnte. Jene wollte unbedingt die nächste Königin werden, doch wurde am Tag der Parade plötzlich krank.

In diesem Dorf konnten Krankheiten jedoch an andere Menschen „verliehen“ werden, bis sie die eigentlichen Besitzer:innen wieder zurücknahmen. „Es konnte dir also jemand deine Krankheit abnehmen, wenn du einen Test schreiben oder einkaufen musstest“, erzählte mir meine Mutter. 

„So, als sei es eine Tasche?“, krächzte ich.

„Genau so.“

Jenes beste Freundin wusste, wie viel es ihrer Freundin bedeutete, Königin zu werden, und bot Jene an, ihre Krankheit zu übernehmen, damit sie an der Parade teilnehmen konnte. Die jetzt wieder gesunde Jene reiste also zum Palast, wo der König – der direkt von ihrer Schönheit geblendet war – sie sofort heiratete. Sie wurde zur Königin.

„Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate, und Jene kehrte nie für ihre Krankheit zurück“, seufzte meine Mutter. „Und so wurde ein neues Gesetz geschaffen: Niemand durfte mehr eine Krankheit übernehmen – egal, wie sehr er oder sie es auch wollte.“

„Ich wünschte, Jene hätte das nicht getan. Ich wünschte, jemand könnte diese Krankheit für mich übernehmen“, flüsterte ich.

„Ich würde all deine Krankheiten für dich übernehmen, wenn ich könnte“, flüsterte meine Mutter zurück.

Ich machte mir nie viele Gedanken um Jenes Story und das geflüsterte Versprechen meiner Mutter, bis ich älter und von zu Hause weg war – nicht physisch, aber emotional, wie es Töchter irgendwann tun.

Wer soll mir jetzt diese Krankheit abnehmen? Wer kann sie für mich halten?

Je älter ich wurde, desto mehr Diagnosen bekam ich; ich sammelte sie, als sei ich Thanos und sie meine Infinity-Steine. Ich studierte Jura, weil mich die Vorstellung von etwas Größerem – einem Konstrukt aus Regeln – reizte, das unsere Leben und Entscheidungen beeinflusst. Meine Krankheiten haben mir selbst nicht viele Entscheidungen gelassen, sondern mir viele genommen. In einem meiner Lieblingsbücher beschreibt sich die Protagonistin selbst als Granate, die irgendwann explodieren wird. Sie versuchte, den Schaden selbst zu reduzieren. Das konnte ich gut nachvollziehen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, eine Granate zu sein.

In letzter Zeit denke ich viel übers Sterben nach – nicht, weil ich sterben will, sondern weil ich womöglich früher sterbe, als ich dazu bereit wäre. „Mach dir keine Sorgen, wenn du jetzt ein paar Tage nichts von mir hörst“, schrieb ich meiner besten Freundin nach meiner neuesten Diagnose. Wenn ich in dieser Zeit sterben sollte, würdest du das schon irgendwie mitbekommen, hätte ich gerne ergänzt, entschied mich dann aber doch dagegen. Von einer fortschreitenden Krankheit wie einer hypertensiven Herzerkrankung zu sterben bedeutet eben auch, deine Liebsten vor dieser Möglichkeit zu schützen. „Ich bin einfach so müde, ich will 200 Tage und Nächte durchschlafen“, schrieb ich stattdessen.

Wenn es mir besonders schlecht ging, habe ich meine Liebsten – meine besten Freund:innen, meine Mutter, meine Geschwister – immer beim ersten Anzeichen dessen vermieden, dass etwas schief gehen könnte. Ich habe mich isoliert und mich stattdessen zu den Leuten hingezogen gefühlt, die meine medizinische Vergangenheit nicht kennen – Menschen, mit denen ich sprechen und lachen konnte, während mein Herz angestrengt versuchte, genug Blut zu pumpen. In einem Krankenhaus-Wartezimmer lächelte ich wehmütig den Mann an, der seiner Partnerin so sanft die Hand hielt, und dachte mir, wie schön es doch sein musste, jemanden zu haben, den:die du liebst und der:die während der schwierigsten Momente in deinem Leben deine Hand hält. Als mich meine Freundin aber fragte, ob sie mit mir ins Krankenhaus kommen solle, sagte ich Nein. Und als mich meine Mutter zum Krankenhaus fuhr, winkte ich ihr zum Abschied, sobald das Auto zum Stehen kam.

In einem Krankenhaus-Wartezimmer lächelte ich wehmütig den Mann an, der seiner Partnerin so sanft die Hand hielt, und dachte mir, wie schön es doch sein musste, jemanden zu haben, den:die du liebst und der:die während der schwierigsten Momente in deinem Leben deine Hand hält.

Aber dieser Mann, seine Partnerin und ihre Hände in seinen lösten in mir so eine Sehnsucht aus, dass ich damals davon überzeugt war, ich sei von dieser tiefen Form der Liebe einfach ausgeschlossen. Das ist ein alberner Gedanke – vor allem, weil ich so sehr von Liebe umgeben bin, dass ich das Fehlen einer romantischen Beziehung fast nie merke. Ich sehne mich nicht danach, und ich bemühe mich auch nicht darum. Trotzdem brachte mich irgendwas an meiner chronischen Krankheit dazu, mir dazu Gedanken zu machen.

Mein Lieblingsfilm ist die Adaption meines Lieblingsfilms, Das Schicksal ist ein mieser Verräter (The Fault in Our Stars). In beiden Versionen stirbt der Protagonist, nachdem er sich verliebt hat, und in einer schmerzhaft romantischen Szene trauert die noch lebende Protagonistin zutiefst um seinen Tod, als würde die Welt auch für sie bald enden. Genau das wünschte ich mir für mich selbst. Ich wollte, dass mein Tod jemandem etwas bedeutet. Ich wollte, dass mein Tod die Lichter im Leben einer anderen Person kurz erlöschen ließ. Die Welt würde sich weiterdrehen – doch würde sie für diesen einen Menschen kurz stehen bleiben.

Also versuchte ich, meine romantischen Partner zu verschiedenen Stufen meiner Diagnose zu einer Version dieser Person zu formen – zu meinem Achilles, wenn ich Patroclus war. Aber das klappte nie so richtig. Da war der Mann, den ich mich zum Krankenhaus fahren ließ, der aber im Auto saß und arbeitete, während mir der Arzt mitteilte, mein starkes Herzklopfen läge am Bluthochdruck. Dann war da ein anderer, dem ich schrieb, als meine Lungenentzündung wieder aufflammte. Er schrieb mir wenige Minuten später zurück: „Oh wow! Tut mir so leid. GB.“ Ich musste googeln, was „GB“ bedeutet: „Gute Besserung“. Ich sah dabei zu, wie mir diese Männer hilflos zusahen, ohne genau zu wissen, wie sie mir helfen sollten, ohne die richtigen Worte zu finden. Tatsächlichen Trost bekam ich viel eher von meinen Freund:innen.

Als ich im März die Diagnose Hypercholesterinämie bekam, machte sich meine Mutter direkt wieder an die Arbeit, wie auch schon zwei Jahrzehnte zuvor. Sie stellte meine Ernährung sofort auf den Kopf und kochte zwei verschiedene Mahlzeiten – eine für mich, eine für den Rest der Familie. Das ist jetzt Monate her, und bis heute kocht sie dreimal täglich zwei verschiedene Mahlzeiten. „Ich würde dir diese Krankheit abnehmen“, sagt mir dieses Essen jeden Tag.

Wie konnte ich glauben, es gäbe da draußen eine Liebe, die noch stärker wäre als diese? Wie konnte ich glauben, die Welt meiner Mutter würde nicht zusammenbrechen, wenn ich starb? Wie konnte ich glauben, es würde kein Licht in ihrem Leben erlöschen, wenn ich plötzlich nicht mehr da wäre?

Während ich meine Krankheit bewältige, lerne ich immer deutlicher, dass ich nicht allein bin – und dass ich nicht allein in einem Wartezimmer sitzen muss. Mir ist nicht ganz plötzlich klar geworden, dass ich geliebt werde – aber ich weiß heute, dass die Liebe, die ich schon habe, genug ist. 

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