Der Weihnachtsmann, bekanntlich eine Erfindung von Coca-Cola, hat unserem Kolumnisten ein Buch unter den Baum gelegt. Das ihn nicht mehr loslässt, nebst der Frage: Ist eine menschengemachte Urgewalt dem Menschen entglitten? Ich habe zu Weihnachten ein Buch geschenkt bekommen, zu lesen begonnen und sofort gemerkt: Das ist nicht einfach ein Buch. Das ist eine Offenbarung, eine 1.200 Seiten starke Abhandlung über eine weltgeschichtlich junge Kraft, die in den vergangenen tausend Jahren unsere Welt geformt und ein gutes Stück weit deformiert hat. Das Buch heißt: "Kapitalismus – Geschichte einer Weltrevolution". Geschrieben von einem deutschen Historiker, Volkswirt und Politologen namens Sven Beckert, der inzwischen in Harvard lehrt und forscht. Vor zehn Jahren hatte er schon einmal eine Art Vorspiel zu diesem Opus magnum abgeliefert: "King Cotton". Am Beispiel der Baumwolle hatte er da schon die naturgewaltigen Kräfte des Kapitalismus festgemacht. Schon an diesem Buch hatte ich mich festgesaugt wie eine Napfschnecke am Felsen. Das Wohltuende seiner Bücher: Beckert bewertet nicht. Er beschreibt. Das unterscheidet ihn von Thomas Piketty und dessen "Kapital des 21. Jahrhunderts". Das war eine Kampfschrift, obendrein viel schlechter geschrieben. An diesen "Papierkriegen", wie er das einen anderen Wissenschaftler sagen lässt, möchte er sich nicht beteiligen. Beckerts 1.373 Gramm schwerer Wälzer (natürlich bin ich noch lange nicht durch) bezieht seine Wucht aus dieser Nüchternheit. Er beschreibt den Kapitalismus von dessen Anfängen um 1100 zum Beispiel im Hafen von Aden bis heute als eine quasi geologische Kraft, als eine Supernova. In der die Verheerung ebenso liegen kann wie Wohlstand und Wohlergehen für alle. Das Anthropozän, also das Zeitalter, in dem nicht die Natur, sondern der Mensch maßgeblich das Schicksal des Planeten bestimmt, sei eigentlich ein "Kapitalozän". In Zeitalter, in dem das Geld und dessen Mehrung die Welt formt. Der Wesenskern dieses Mechanismus ist immergleich. Billig einkaufen, teurer verkaufen. Gewinn einstreichen. Wieder investieren. Aus viel Geld noch viel mehr Geld machen. Bis zur Besinnungslosigkeit. Das geht manchmal ganz einfach und zum Beispiel so: Wir haben hier zu Weihnachten einen Kaffee der "Hanseatischen Kaffeekultur" auf dem Tisch. Schöne tiefblaue Verpackung mit Goldrand, güldene Weihnachstanne darauf. Versprochen wird auf dem wertig wirkenden Drumherum "Festlicher Weihnachtskaffee mit weihnachtlichen Gewürzen". Das Geheimnis ist nach der ersten Tasse schnell enthüllt: Er schmeckt einfach nach Kardamom, jenem Gewürz, das in Marokko zum Beispiel gerne in den Kaffee gegeben wird. Berberkaffee heißt das da und kostet auf jedem Suq einen Bruchteil der 200 hanseatischen Gramm in Tiefblau und Gold aus Floh-Seligenthal. Einfachen Berberkaffee zum Weihnachtswunder in der Tasse umetikettieren: So geht Kapitalismus. Wir wollen das so. Wir wollen bei diesen Gewinnmaximierungen durch die Aufblase eines einfachen Produkts mittels Marketing zum Goldstaub übers Ohr gehauen werden. Je einfacher das Grundprodukt, je aufgeblasener das Marketing, umso besser das Geschäft. Das geht so mit den vielen angeblichen Manufaktur-Gins. Gin ist im Kern billiger Fusel, den jeder leicht herstellen kann. Aber: Schönes Etikett drauf, schöne Geschichte drumrum. Hoher Preis dran. Läuft. Am meisten totlachen könnte ich mich über die hippen Porridgeläden, in denen "overnight oats" und sonst ein aufgeblasener Quatsch wie beim Juwelier in der Auslage präsentiert werden. Zu Mondpreisen. Dabei sind Haferflocken , wie der Grundstoff von Porridge so schön schlicht auf Deutsch heißt, ein Pfennigprodukt, das sich jeder selbst mit Zutaten pimpen kann. Kostet fast nichts. Das Regulativ ist verloren gegangen Billig einkaufen, teuer verkaufen. Reibach einstecken. Das Geld zu unermesslichen Haufen auftürmen. Das war immer so, schreibt Beckert. Es gab in Samarkand an der Seidenstraße, in Bagdad , im indischen Khambhat (heute vergessen), in Ghanzou in China sagenhaften Reichtum einiger Kaufleute. Es gab die Medici in Florenz und die Fugger in Augsburg. Grenzen wurden gesetzt: Auf den Märkten des Spätmittelalters in England wurden die Preise nicht durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Sondern durch komplexe Verordnungen. In islamischen Gesellschaften wachte der "muhtasib", der Marktinspektor, über einen moralisch einwandfreien Handel. Aus heutiger Sicht unvorstellbar: Der Fall des Robert Keayne, der sich 1639 vor dem General Court of Massachusetts wiederfand. Er war in die englische Kolonie aus dem Mutterland als Händler dortiger Waren eingewandert. Unter Tränen gestand er dem Gericht sein "habgieriges und verdorbenes Herz", wie ein Zeitgenosse notierte. Er sei diesen "falschen Grundsätzen" gefolgt: Dass ein Mann so teuer wie möglich verkaufen und so billig wie möglich kaufen soll. Dass ein Mann, wenn er durch einen Schiffbruch etwa einen Teil seiner Waren verliert, den Preis für den Rest der Fracht erhöhen kann. Dass ein Mann, so wie er sich seine eigene Geschicklichkeit oder Fähigkeit zunutze machen kann, auch die Unwissenheit oder Notlage eines anderen ausnützen darf. Toller Kerl, dieser Robert Keayne, der hat's begriffen , würden heute Donald Trump , Jeff Bezos und Elon Musk sagen. Und Vivienne Westwood, die Modeikone der Punkbewegung, auslachen. In einer tollen Doku über sie sagt sie den Satz, den sie ihren Beratern zurief, als die sie bedrängten, sie müsse dringend expandieren, größer werden: "But I don’t want to expand", ("Aber ich will nicht expandieren"). Ende der Diskussion. Unvergessen ist sie trotzdem. Diese Urgewalt ist Fluch und Segen Das ist die vorläufige Erkenntnis aus dieser Weihnachtslektüre: Der Kapitalismus stellt einen grundlegenden Bruch in der Menschheitsgeschichte dar. Er hat den Systemkampf gegen den Kommunismus gewonnen und Wohlstand und Wohlergehen für eine große Mehrheit der Menschen gebracht. Aber diese Kraft, die Beckert in den Rang einer Naturgewalt setzt, kann ihre segensreiche Wirkung nur entfalten, wenn die Menschheit und die in ihm handelnden Menschen die sittliche und moralische Reife aufweisen, verantwortungsvoll mit ihr umzugehen. Sonst bedeutet dieses Streben nach Geldmaximierung nicht nur "eine Gefahr für das moralische Wohl des Einzelnen", wie Aristoteles in seiner "Politik" vor 2.000 Jahren schrieb. Sondern für die physische Existenz allen Seins auf diesem Planeten. Seit einiger Zeit geht diese Urgewalt Kapitalismus, ihrer sittlichen und moralischen Fesseln entledigt, eindeutig in diese falsche Richtung.
