World Press Photo Award: Fotografin arbeitet zu Demenz in Afrika: "Niemals würde ich jemanden in Ketten zeigen"
Lee-Ann Olwage porträtiert an Demenz Erkrankte und die Menschen, die sie pflegen, in Ghana, Namibia und Madagaskar. Jetzt wurde das Langzeitprojekt der südafrikanischen Fotografin beim World Press Photo Award ausgezeichnet. Hier spricht sie über den unterschiedlichen Umgang mit der Krankheit.
Viele Fotoarbeiten über Demenz beschäftigen sich mit einem Einzelschicksal. Wie bist du zu der Entscheidung gekommen, eine Geschichte über Demenzerkrankungen in verschiedenen afrikanischen Ländern zu fotografieren?
Es gibt große kulturelle Unterschiede im Umgang mit Demenzkranken. Ich habe mich immer gefragt: Wie schaffe ich es, diese Geschichte möglichst persönlich und sensibel zu erzählen? Gleichzeitig wollte ich die unterschiedlichen Bedürfnisse von Lebensgemeinschaften im Umgang mit Älteren betrachten und darauf eingehen, dass Demenz ganz unterschiedlich verstanden wird.
Dann habe ich mich auf die Suche gemacht. Zunächst über Hilfsorganisationen, habe Beziehungen aufgebaut und so versucht, die unterschiedlichen Aspekte und Kapitel der Geschichte miteinander zu verweben.
Muriel von "Masoandro Mody" in Madagaskar lernte ich 2020 kennen. Ihre Leidenschaft und ihr Elan, das Leben der Menschen mit Demenz zu verbessern, haben mich sehr inspiriert. Wir blieben in Kontakt, aber dass ich wirklich nach Madagaskar reisen würde, ahnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Wie kommt man als junge Frau darauf, sich mit einer Krankheit zu beschäftigen, die vor allem Ältere betrifft?
Es begann mit der Alzheimer-Erkrankung meiner Großmutter. Es war von Beginn an ein sehr persönliches Projekt. Dann erzählte mir mein Lebenspartner von Ndjinaa, einer Himba aus Namibia. Ihre Familie hatte sie 20 Jahre lang in Ketten gelegt, weil niemand ihre Symptome verstand. Ich wurde neugierig und fuhr nach Namibia, um Ndjinaas Geschichte und die ihrer Familie besser zu verstehen. Das war der Beginn meines Langzeitprojekts und zugleich eine entscheidende Wegmarke. Niemals würde ich jemanden in Ketten zeigen, denn das wäre das einzige Bild, das am Ende im Gedächtnis bleibt. Ich musste eine andere Geschichte erzählen.
Es blieb nicht bei einem Besuch in Namibia, nach Stationen in Ghana folgte zusammen mit GEO das letzte Kapitel in Madagaskar. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit GEO?
Als ich die Geschichte vorschlug und sofort Interesse an einer Zusammenarbeit bestand, habe ich mich sehr gefreut. Für mich ist es wichtig, einen Partner für die Veröffentlichung zu finden, der die Geschichte in ähnlicher Weise wie ich erzählen würde. Mir lag sehr daran, die Geschichte gemeinsam mit GEO weiterzuentwickeln. Das Privileg, das wir Fotografinnen haben, der besondere Zugang zu Lebenswelten, ist ein kostbares Gut. Wir sind die Anwälte unserer Protagonistinnen, sie vertrauen uns, und ich vertraute GEO. Ich war von Anfang an überzeugt, dass GEO die notwendige Ernsthaftigkeit mitbrächte, die auch mir wichtig war.
Die Erkrankung und ihre Symptome sind oft nicht bekannt"
Den verbreiteten Klischees zufolge fehlt es in Afrika vor allem an Behandlungsmöglichkeiten und medizinischer Expertise. Was sind deine Erfahrungen? Worin unterscheidet sich der Umgang von Demenz- und Alzheimer-Erkrankungen in Afrika und Europa?
Die geriatrische Medizin ist in Afrika, gerade in ländlichen Gebieten, nicht sehr weit verbreitet, regelmäßige Check-up-Untersuchungen sind eher die Ausnahme. Überhaupt angemessen behandelt und versorgt zu werden ist die erste Hürde. Die zweite besteht im Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit. Die Erkrankung und ihre Symptome sind oft nicht bekannt und werden falsch gedeutet.
Ganz anders ist die Situation im Masoandro-Mody-Zentrum auf Madagaskar. Die Hingabe, Leidenschaft und Freundlichkeit, mit der das Team den Menschen begegnet, hat mich wahrhaftig umgehauen. Mir wurde klar, der Umgang mit Demenzkranken entscheidet sich an den Orten der Pflege. Keine Regierung hat so viel Einfluss auf das Wohlbefinden der Patienten.
Was genau bedeutet es, wenn Symptome falsch gedeutet werden?
Viele Demenzkranke erfahren Ausgrenzung und Ablehnung auf ganz unterschiedliche Art und Weise. In den drei Jahren, die ich an dem Projekt gearbeitet habe, habe ich beobachtet, wie Ältere geächtet und gefürchtet werden. Sie verhalten sich sonderbar, häufig wird vermutet, sie seien "verhext" oder von Geistern besessen.
Die Arbeit im Masoandro-Mody-Zentrum zeigt die Bedeutung von Bildungsarbeit. Es unterstützt Gemeinschaften bei der Aufklärung über Anzeichen und Symptome. Solche Bildung ist im Umgang mit Demenzkranken unerlässlich. Um Angst und Stigmata zu vertreiben, muss der Umgang mit Älteren und speziell mit Demenzkranken neu gedacht werden. Das passiert auf Madagaskar.
WPP Ann Lee Olwage Alzheimer Madagaskar
Das klingt nach einem hoffnungsvollen Bild für die Zukunft. Wie siehst du die Entwicklung?
Meine Hoffnung ist, dass das Thema präsenter wird und meine Arbeit Familien helfen kann, ein Verständnis für ihre Angehörigen zu entwickeln.
In Zeiten des demografischen Wandels und einer immer älter werdenden Gesellschaft ist das Risiko, an Demenz zu erkranken, einfach höher. Umso wichtiger wird es aber auch, Menschen mit Demenz die Möglichkeit eines lebenswerten Lebens zu eröffnen.
Der kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund im Umgang mit Demenzerkrankungen muss Teil des Diskurses werden, damit Hilfsorganisationen Menschen mit Demenz überhaupt helfen können.
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