M.Streck: Frischluft: Der Umgang mit der Coronakrise: Alle beneiden Deutschland. Nur die Deutschen nicht.
Unser Autor Michael Streck lebt sich nach Jahren im Ausland ganz langsam wieder ein. Er fühlt sich gut aufgehoben und wundert sich dennoch manchmal über seine Landsleute.
Vor knapp drei Monaten kehrten wir nach einer langen Reise durch Südamerika und Asien nach Deutschland zurück. Wir hatten zuvor jahrelang im Ausland gelebt. Erst in den USA, später in Großbritannien. Wir kamen zurück im Frühjahr und wollten uns an dieses Deutschland gewöhnen, ganz langsam und vorsichtig. Es war uns im Laufe der Zeit zu einem fremden Land geworden.
Dann kamen Corona und der Lockdown, und aus dem langsamen Eingewöhnen wurde ein Schnelldurchlauf. Wir sahen Wissenschaftler und Politiker, die wir schlicht nicht kannten oder schlicht vergessen hatten. Der wuschelköpfige Drosten wurde zu Recht zum Star und Merkel wirklich zur Mutti. Sie machten das gut. Wir erlebten, dass die hiesige Politik auf Experten hörte, auf Virologen und Statistiker, aber auch auf Soziologen und Psychologen. Wir stellten verblüfft und erleichtert fest, dass sie Fehler erst freimütig eingestanden und dann nach bestem Wissen und Gewissen korrigierten. Eine beinahe wohlige Eintracht lag über diesem Land. Man könnte auch sagen: Wir fühlten uns angekommen und gut aufgehoben.PAID Brinkmann Interview - 11.50
Unwillkürlich kommen die Vergleiche
Denn natürlich blicken wir immer noch auf unsere alte Heimat Großbritannien und bekommen Chaos, Konfusion und Hilflosigkeit gespiegelt. Schlimmer noch als in den schlimmsten Brexit-Zeiten. Wir haben Familie in Frankreich, unsere jüngere Tochter und viele, viele Freunden leben nach wie vor in London und in New York. Wenn wir telefonieren kommen unwillkürlich die Vergleiche. Sie werden meistens neidisch. In Deutschland wurde und wird mehr getestet als anderswo, die Krankenhäuser sind besser ausgestattet, es gibt deutlich weniger Tote. Deutsche dürfen überall einkaufen, wir konnten so lange und so oft das Haus verlassen, wie wir wollten. Wer Lust hat, kann sogar wieder essen gehen. Die Bundesliga spielt seit Samstag. Davon träumen sie anderswo.
Kurzbio Michael StreckDeutschland ist überall Referenzgröße. Erstaunlicherweise nur in Deutschland nicht.
Das irritiert mich, wenn nun nach dem Virus eine Protestwelle durchs Land schwappt. Gegen Protest und Demonstrationen ist natürlich nichts, aber auch gar nichts einzuwenden. Sie gehören a) zu den Grundrechten und sind b) der Beweis dafür, dass die Maßnahmen im Kampf gegen Corona offenbar greifen. Wenn auf diesen Demos gegen die Einschränkung der Grundrechte protestiert wird, ist das insofern ein fast putziger Widerspruch in sich. Etwas Absurderes als die Litanei von Masken als Maulkorb habe ich selten gehört und gelesen. Jeder darf die Maske abnehmen und den größten Stuss erzählen. Das ist gelebte Meinungsfreiheit.
Sogar die "Lügenpresse" macht wieder die Runde
Es geht hier explizit nicht um die Wirrologen und kruden Verschwörungserzähler. Mit solchen Leuten kommt eine Demokratie schon klar. Es geht um Grundsätzlicheres. Es geht um diesen teutonischen Hang zum Nörgeln und zum Klagen auf hohem Niveau. Die waren in Zeiten der Quarantäne offenbar auch in Quarantäne. Jetzt nicht mehr. Das dämliche Wort von der "Lügenpresse" macht sogar wieder die Runde wie zu Pegida-Zeiten.
Auf unseren Reisen machten wir Station in Ländern, deren Medien vom Staat in Regierungs-Vehikel umfunktioniert wurden. Thailand, Kambodscha, Myanmar, die im weltweiten Korruptions-Index ganz weit oben rangieren. Wenn die Menschen dort von Lügenpresse reden, hätten sie erstens recht und würden sich zweitens in Gefahr begeben. So viel dazu. Ein bisschen Demut täte uns allen gut.
Neulich telefonierte ich mit einem alten Freund in London. Er ist Fotograf und ein aufmerksamer Geist. Er sitzt in seiner kleinen Wohnung, die er nur verlässt, um das Elend in den Londoner Wohnsilos zu dokumentieren oder die erbärmlichen Zustände in den Altenheimen. Irgendwann fragte er: "Sag mal, was ist eigentlich bei euch los? Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt. Wissen die Deutschen eigentlich, wie gut sie es haben im Vergleich zu fast allen anderen?" Es entstand ein Moment Schweigen. Dann antwortete ich: "Ich fürchte nein." Und nun frage ich mich, wie das erst mal werden soll, wenn die wirtschaftlichen Folgen durchschlagen und es den Deutschen wirklich schlechter geht. Das macht mir mehr Angst als ein paar verpeilte Alu-Hüte.