RNZ-Serie "Musikalisches Hirschberg": Von Zufall und glücklicher Fügung (plus Video)
Von Marco Partner
Hirschberg-Großsachsen. Er ist Pianist, Komponist und Musikpädagoge. Mit seiner Improvisationskunst haucht er Stummfilmen im Kino Leben ein, in seinem scheunenartigen Unterrichtsraum nimmt er auch den ältesten Anfängern die Scheu vorm Klavierspiel. Wie Jens Schlichting aber überhaupt zur Musik kam? "Nennen wir es mal glückliche Fügung", sagt er heute und lacht, wohl wissend, dass der Zufall ab und an seine Finger mit im Spiel hatte - und einmal auch das große Pech.
Urig wirkt es im Studio in Großsachsen. Die Holzbalken strecken sich über dem Flügel aus, alte Chopin-Notenblätter liegen griffbereit. "In meiner Familie hat eigentlich niemand ein Instrument gespielt, ich bin eher auf ungewöhnlichem Weg zur Musik gekommen", erinnert sich der 52-Jährige.
Und am Anfang steht auch gar nicht das Klavier, sondern das Jagdhorn. Da er beim Vater eines Freundes üben konnte, war Jens Schlichting bestens vorbereitet, als in der dritten Klasse ein Trompetenspieler die jungen Schüler besuchte. "Ich kannte bereits den Trick und war der Einzige, der einen Ton herausbrachte. Vielleicht war dieses Erfolgserlebnis die Initialzündung", sagt er heute.
Doch statt der Trompete kam wieder der Zufall ins Spiel. Ein Meister ist noch nicht vom Himmel gefallen - und ein Klavier allenfalls in alten Slapstick-Filmen. "Plötzlich jedoch hatte die Freundin der Oma ein Klavier abzugeben", erklärt Schlichting, und das ehrwürdige Tasteninstrument fand in ihm einen begeisterten Abnehmer.
Unter anderem bei Doris Schmidt-Kraepelin vom Sulzbacher Hof nahm er Unterricht. Und die im Oktober 2017 verstorbene Organistin sagte einen Satz, den ihr Schüler bis heute nicht vergessen hat: "Egal was passiert, spiel einfach weiter", empfahl die Lehrerin, als ein Konzert anstand. Und Klein-Jens bezog es gar nicht auf seine Nervosität, sondern nahm es wortwörtlich: Egal, was passiert.
Kaum schlug er die ersten Töne auf dem Flügel an, da rappelte und vibrierte der Notenständer. Doch Schlichting ließ sich nicht beirren. Er spielte und spielte, bis die Unterlage immer näherkam, umzukippen drohte, im Publikum schon das Gemurmel losging und plötzlich - wumms - das Notenheft samt Ständer tatsächlich auf die Hände des jungen Klavierspielers fielen. "Die Leute haben gebrüllt vor Lachen, aber ich habe mit dem Notenheft auf den Fingern einfach weitergespielt. Das war mit Sicherheit ein prägendes Erlebnis", betont er.
Und im Nachhinein vielleicht der Startschuss für seine musikalische Karriere, die ihn von Hamburg bis nach Florenz führt. In Heidelberg und Mannheim studierte er Instrumental-Pädagogik sowie Jazz- und Popularmusik. Vor allem der Unterricht mit erwachsenen "Anfängern" ist ihm sehr ans Herz gewachsen. "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Dieser Spruch stimmt beim Klavierspiel nicht", weiß Schlichting. Für das das Lernen des Tasteninstruments sei es eigentlich nie zu spät.
Wie ein Psychologe nimmt der Lehrer seine großen Schüler oft an die Hand, ob im Studio oder bei einwöchigen Seminaren in der Toskana - und befreit sie von Mythen, die manche Musiklehrer vor Jahrzehnten eingepflanzt haben. Dass man unmusikalisch sei und es besser sein lasse. Für immer. "Aber wenn der Traum in einem schlummert, soll man es versuchen. Musik ist gesund", erklärt Schlichting - und arbeitet tatsächlich mit dem musikmedizinischen Institut der Hochschule Hannover zusammen.
"Es ist ein Privileg, jeden Tag etwas machen zu dürfen, was man unheimlich gerne mag", sagt er über seine Arbeit. Im Vordergrund steht dabei nicht immer die Musik, sondern auch der Mensch. "Ich arbeite mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammen, das ist faszinierend", lernt auch Schlichting bei jeder Stunde noch etwas dazu. Und bleibt seiner großen Leidenschaft treu. Weitermachen, egal was passiert.